Wenn das LEBEN fragt

Von Viktor Frankl stammt die bekannte Aussage:

NICHT WIR sollten das LEBEN fragen, was wir von ihm zu erwarten haben, sondern DAS LEBEN FRAGT UNS – DAS LEBEN FRAGT AN.

Wenn das LEBEN uns mit einer ANFRAGE berührt und zu uns spricht, sich uns im Innersten offenbart und uns etwas an-vertraut, dann ist es gut, wenn wir diese Einladung achtsam empfindend wahrnehmen und gut hinhören, was es uns zu sagen hat bzw. worin es uns berührt.

Und dieser Zusage, dieser Anfrage des Lebens sollten wir vertrauen, sie nicht in Frage stellen. Etwa in diesem Sinne ereignete sich „mein Auftrag“, sich für Mr. Masalu und seine Familie einzusetzen. Diese Anfrage des Lebens zweifle ich auch ein Jahr danach in keinem Moment an. In meinem Tun liegt die große Gewissheit: Es ist gut und richtig so! ,

„Ist das nicht ungerecht? Weckt das nicht viele Neider, wenn du „nur“ einem Menschen so viel Unterstützung und Hilfe zukommen lässt?“ – das ist wohl die mir am häufigsten gestellte Frage.

Meine Antwort darauf ist sehr einfach. Diese Anfrage, die das Leben an mich gerichtet hat, ist unhinterfragbar. Wer da lange nachfragt, kommt nie ins TUN. Das Leben, die Liebe lebt vom TUN – sie ist absichtslos und verlangt nichts zurück. Sie hat an sich selbst genug. Die Liebe lebt davon, dass sie was tut und nicht, dass sie was bekommt. Würde ich dieses Tun anzweifeln, wäre das der Zweifel dem LEBEN gegenüber schlechthin.

Dieses Tun lebt vom Vertrauen ins Leben und schließlich nehmen wir durch unser Tun am Leben des anderen auch Anteil. Das ist einerseits „die besondere Nähe, die entsteht, wenn ich mir die Bedürfnisse des anderen zu eigen mache und die eigenen Wünsche zurückstelle. Dadurch werden wir füreinander auf eine Weise wichtig, die es ohne moralische Intimität nicht gibt. Für ihn ist es eine Wichtigkeit jenseits von Dankbarkeit, und für mich bedeutet sie keine Selbstlosigkeit im Sinne einer Aufopferung, die von mir nichts übrigließe. Überhaupt ist die Sprache von Dank und Opfer der Erfahrung nicht angemessen. Eher schon die Sprache der Verbundenheit, des geteilten Lebens und der Solidarität, die das Leben reicher machen und ihm Tiefe geben.“ ²

Natürlich stoße ich immer wieder auch an meine Grenzen und mache Grenzerfahrungen. Jeder Mensch hat seinen Raum, der ihm angemessen ist. Darin leben zu lernen, ist ein ständiges Üben und Lernen. Auch LEBEN muss gelernt werden – dazu gehört, sich immer wieder zurück zu nehmen und auf seine persönlichen Grenzen zu achten. Auch diese Sensibilität entwickeln und verfeinern wir im Laufe unseres Lebens durch Versuch und Irrtum. Peter Bieri spricht in seinem Buch „Eine Art zu leben“ von der „Erfahrung moralischer Intimität.

Wer im sozialen Dienst seine Grenzen ständig überschreitet, kann sich selbst verlieren. Es kann aber auch sein, dass dieses Überschreiten der Grenzen gleichzeitig ein Eindringen in den Raum eines anderen Menschen bedeutet. Das zeichnet distanzlose Menschen aus, die kein Gefühl mehr für den Raum des anderen haben.

Distanzlose Menschen und Menschen, die sich nicht begrenzen können (z.B.: auch in ihrem eigenen Konsum), davon gibt es immer mehr. Sie verlieren das Gefühl, wann es genug ist. Unsere Gesellschaft ist voll davon – sie spiegeln unseren Zeit-Geist. Unser Zeitgeist spiegelt Grenzenlosigkeit – wir überschreiten alle Grenzen, beuten aus (auch uns), zerstören, sind gier- und maßlos geworden. Im HABEN suchen wir unser Glück. Dabei bleibt das/unser LEBEN immer mehr auf der Strecke.

Daher können die meisten Menschen auch nicht (mehr) verstehen oder nachvollziehen, dass wert-volles und sinn-volles Leben auch darin bestehen kann, anderen zu helfen und/oder auf etwas zu verzichten. So erübrigt sich die banale Frage: Warum tust du dir denn das an? Was h a s t du denn davon?

² Peter Bieri: „Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde.“ Kap.6: Würde als moralische Integrität Verlag: Carl Hanser, München 2013